Zu seinen Leb- und Amtszeiten wurde Avery Brundage, der große Bewunderer Deutschlands, besonders in den Medien der Bundesrepublik immer wieder als der Mann gefeiert, der die Olympische Bewegung nicht nur durch die Turbulenzen der Nachkriegszeit rettete, sondern auch die Weichen für ihre heutige Solidität stellte. Neuere sporthistorische Untersuchungen ergeben ein völlig anderes Bild. Die heutige Stärke der Olympischen Bewegung entwickelte sich weniger wegen, vielmehr trotz der Person Brundages. Zu diesem Wandel in der Einschätzung seiner Rolle trug pikanterweise eine der letzten Entscheidungen des 1975 gestorbenen Amerikaners in erheblichem Maße selbst bei. Brundage war über die Entwicklung des IOC in den letzten Monaten seiner Amtszeit sowie in den Jahren bis zu seinem Tod so verbittert, daß er seine gesamte olympische Korrespondenz testamentarisch nicht etwa dem IOC, sondern der University of Illinois (Chicago) sowie als Kopie dem Bundesinstitut für Sportwissenschaften vermachte. So ist es heute jedem Wissenschaftler möglich, mehr als deutliche Einblicke in das Leben des Sportfunktionärs Brundage und in die IOC-Geschichte mehrerer Jahrzehnte zu werfen - eine Möglichkeit, die mit großer Sicherheit nicht bestehen würde, wären die Materialien in IOC-Besitz übergegangen.
Laufbahn
Avery Brundage, geboren in Detroit, Sohn eines Steinmetzen, vaterlos aufgewachsen, absolvierte College und Universität, diplomierte zum Ingenieur, gründete ein Bau-Imperium, war entscheidender Mitgestalter der Skyline von Chicago und baute zahlreiche Hotels. Solchermaßen finanziell abgesichert, startete er in den 20er Jahren seine Sportfunktionärslaufbahn, die ihn bis zur IOC-Präsidentschaft führen sollte. Nicht ganz so erfolgreich hatte sich ein Jahrzehnt zuvor seine aktive Laufbahn gestaltet. Zwar gewann er 1914, 1916 und 1918 jeweils die amerikanische Mehrkampfmeisterschaft, doch bei der Olympiade 1912 in Stockholm kam er nicht über den 5. Rang im Fünfkampf hinaus, im Zehnkampf mußte er aufgeben.
Erstmals maßgeblich mit olympischen Angelegenheiten befaßt war Avery Brundage im Vorfeld der Berliner Spiele von 1936. Als Vorsitzender der mächtigen Amateur Athletic Union (AAU) setzte er den von jüdischen und Bürgerrechtsorganisationen heftig kritisierten Start der US-Sportler durch, wobei antisemitische Töne anklangen. Um sein Ziel der Teilnahme zu erreichen, scheute sich der Mann, der noch 35 Jahre später hartnäckig die Losung vom "reinen Amateur" verfocht, nicht, auf die bitter notwendige Stimme eines Profi-Delegierten zurückzugreifen. Fragwürdig erscheint auch sein Verhalten im Zusammenhang mit dem Auftrag des amerikanischen Olympischen Komitees, die Zustände in Deutschland zu untersuchen und zu begutachten. Er übermittelte nämlich, wie heute feststeht, seinen Abschlußbericht schon, bevor er überhaupt Deutschland erreichte, einer Zeitschrift in den USA. Von Diskriminierungen jüdischer Sportler war darin nicht die Rede. Das IOC der 30er Jahre nahm daran keinen Anstoß. Vielmehr wurde Brundage nun an Stelle seines Landsmanns Jahncke, der wegen seiner Sympathien für einen Berlin-Boykott aus dem IOC ausgeschlossen worden war - ein bis dahin einmaliger Vorgang -, in das IOC berufen.
Brundage stand auch weiterhin dem Dritten Reich unkritisch gegenüber und agierte nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im darauffolgenden Jahr 1940 als Vorsitzender des "Citizens Keep America Out of War Committee".
Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg Brundage 1945 zum Vizepräsidenten des IOC auf. Für ihn wie für den IOC-Präsidenten Sigfrid Edström (Schweden) hatte sich durch den Krieg wenig verändert. Unter Verweis auf das Dogma der Trennung von Sport und Politik sprach man die Sportfunktionäre des Dritten Reiches von Verantwortung frei und gestattete dem NOK der Bundesrepublik, in dem viele davon wieder vertreten waren, die Rückkehr ins IOC. Karl Ritter von Halt, Präsident des NOK der Bundesrepublik seit 1951 und lebenslängliches IOC-Mitglied seit 1937 war und blieb trotz herausragender Position in der Zeit des Dritten Reiches (Reichssportführer bei Kriegsende) einer der besten, wenn nicht der beste Freund des Amerikaners.
Mit der massiven Unterstützung Edströms wurde Brundage 1952 gegen den britischen Lord Burghley und späteren Marquess of Exeter zum IOC-Präsidenten gewählt. Daß damit die weltpolitische Trennung auch in den Entscheidungen des IOC deutlich wurde, zeigte sich in den folgenden 20 Jahren. In allen geteilten Staaten - China, Korea und Deutschland - verstand sich Brundage als Beschützer des westlich orientierten Teilstaates, was zumindest im Falle Chinas zum Rückzug des bevölkerungsreichsten Landes der Erde aus der Olympischen Bewegung führte, zum Nachteil des Universalismusanspruchs der Olympischen Idee. Angesichts der Machtverhältnisse in der Welt wurden die Spiele jedoch nicht substantiell bedroht. Das sollte erst in den 60er Jahren geschehen.
Die Staaten der Dritten Welt hatten zum großen Teil ihre politische Unabhängigkeit gewonnen und Fragen wie Kolonialismus und Rassismus - institutionell verkörpert in der Republik Südafrika und Rhodesien - rückten bei allen internationalen Organisationen ins Zentrum der Diskussion. In der UNO oder im Weltkirchenrat schenkte man den Argumenten der Schwarzen Beachtung, nicht so im IOC unter der Führung Brundages. Erst als 1968 vor den Spielen von Mexico City die gesamte Dritte Welt und die sozialistischen Staaten mit dem Boykott der Spiele drohten, falls der von Brundage unterstützte Start der Südafrikaner erfolgen sollte, und auch westliche IOC-Mitglieder die Teilnahme der Südafrikaner ablehnten, kapitulierte der IOC-Präsident. Es war seine erste große Niederlage, doch es sollte nicht die letzte sein. Zwei Jahre später kam erneut gegen seinen Willen der IOC-Ausschluß des südafrikanischen Olympischen Komitees zustande und 1972 wurde Südrhodesien die Teilnahme in München untersagt, obwohl Brundage dies als unzulässige Politisierung der Olympischen Spiele beklagte.
Brundage hatte schon zuvor seinen Verzicht auf eine Wiederwahl bekundet, aber es war kein ganz freiwilliger Abgang. Der Amerikaner hatte erkennen müssen, daß sich die IOC-Basis in immer stärkerem Maße der besonderen Verpflichtung des Sports im Kampf gegen Diskriminierungen aller Art - nicht umsonst figurierte diese Verpflichtung in Regel 1 der Olympischen Charta - bewußt geworden war, und es daher an der Spitze des IOC keinen Platz mehr für einen "Rassisten", so der Vorwurf der Dritten Welt, gab. Auch auf einem anderen Gebiet hatte Brundage endgültig verloren. Den olympischen Amateur reinen Wassers, wie er ihn immer wieder forderte, gab es längst nicht mehr. Dementsprechend wurde unmittelbar nach Brundages Rücktritt das Amateur-Statut liberalisiert. Ironie der Geschichte dürfte es sein, daß das umgekehrte Extrem, die exzessive Kommerzialisierung der Olympischen Bewegung, später unter Juan Antonio Samaranch Realisierung fand. Dieser nämlich wurde 1966 auf ausdrücklichen Wunsch Brundages und gegen die olympische Tradition ins IOC berufen. (Samaranch war das zweite spanische IOC-Mitglied; bis dato durften aber nur Länder, die schon einmal Olympische Spiele veranstaltet hatten, zweifach vertreten sein.)
Nach seinem Rücktritt als IOC-Präsident kehrte Brundage der Olympischen Bewegung den Rücken. Fortan widmete er sich nur noch seiner einzigartigen Sammlung chinesischer und japanischer Kunstgegenstände. 1973 heiratete er die deutsche Prinzessin Marianne von Reuß, die er bei den Spielen von München kennengelernt hatte und siedelte nach Garmisch-Partenkirchen über. Im dortigen Kreiskrankenhaus starb Avery Brundage am Abend des 8. Mai 1975 nach einer Grippe an akutem Herzversagen.